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Rezensionen zu:

Theodor Itten: Jähzorn. Psychotherapeutische Antworten auf ein unberechenbares Gefühl.

Theodor Itten: Jähzorn. Psychotherapeutische Antworten auf ein unberechenbares Gefühl. Wien, New York: Springer 2007. 
ISBN 978-3-211-48622-1, 193 Seiten, 1 Abbildung, geb., 24,95 €, sFr 41,00.


Sofort von null auf hundert

Theodor Itten, freischaffender Psychotherapeut und Psychologe in Sankt Gallen und Hamburg, legt ein Buch über Jähzorn vor, ausgehend von einer persönlichen Erfahrung im fünften Lebensjahr, als ein Onkel in einem Anfall von Jähzorn eine Grasgabel nach ihm schleuderte. Jähzorn ist im ICD-10-Kapitel V der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen gar nicht aufgeführt ist, ebenso wenig findet man den Begriff in den Indizes der meisten psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychologischen Lehrbücher, beispielweise auch nicht im Klassiker unter den Psychiatrielehrbüchern von Eugen und Manfred Bleuler.
Die zerstörerische Wucht des Jähzorns, eine der sieben Todsünden,  ist zwar bekannt, doch bisher tabuisiert: Einleitend weist Itten auf den während des Fußballweltmeisterschaftsfinales 2006 vor einem Millionenpublikum stattgehabten Jähzornanfall des „Fußball-Buddhas“ Zinedine Zidane hin. Es trifft jedoch nicht nur Fußballstars, auch die Mode-Ikone Naomi Campbell rastet immer wieder aus, und stehe damit für etwa ein Viertel der Bevölkerung der jeweiligen zivilisierten Landesbevölkerung, die zum Jähzorn neige.

In den USA gibt es dafür schon wieder einen Krankheitsbegriff, die „Intermittent Explosive Disorder“, zu Deutsch „Wutsyndrom“. Psychiater diagnostizieren dies bereits dann, wenn es mindestens dreimal pro Jahr zu einer massiven Wutattacke kommt. Man mag dies belächeln oder begrüßen, Fakt ist, dass von ihnen empfohlen wird, mit einem Test auf die „Intermittent Explosive Disorder“ schon in der Fahrschule potentielle „Straßenjähzornige“, also junge, oft alkoholisierte, mit psychischen Problemen beladene Männer, die einen rücksichtslosen und aggressiven Fahrstil pflegen, zu identifizieren.
Im ersten Teil des Buches wird eine im März und Juni 2006 in der Ostschweiz durchgeführte Straßen-Befragung an 481 Passanten bezüglich ihrer Erfahrungen mit Jähzorn vorgestellt, ergänzt durch eine telefonische Umfrage in Bern, Zürich und Basel. Im August 2006 wurden weitere 94 Personen als Kontrollgruppe befragt. Die verschiedenen Antwortbereiche des im Anhang mit abgedruckten Jähzorn-Fragebogens wurden mit Hilfe des sozialpsychologischen Forschungsansatzes der „grounded theory“ ausgewertet. Für riskant halte ich aber die Hochrechnung der Ergebnisse einer nicht-repräsentativen Befragung auf die gesamte Bevölkerung der Schweiz und den Rückschluss, dass wir es mit einer „veritablen Volksplage“ (Seite 17) zu tun haben. Leider werden in dem Kapitel „Der gezählte Jähzorn“ dann auch gleich wieder Ergebnisse aus der eigenen Untersuchung und Ergebnisse aus anderen Studien vermischt dargestellt (beispielsweise S. 20).

Auch wenn das Buch hinsichtlich des Aufbaus und der Darstellungsweise der Umfrageergebnisse strengen wissenschaftlichen Kriterien nicht genügen kann, bietet es doch eine Fülle von interessanten Überlegungen und Denkanstößen zum Jähzorn, die durch die reiche therapeutische Erfahrung des Autors gespeist sind. So werden im zweiten Teil Auslöser, Anfälle und Verläufe von Jähzorn vorgestellt und mit Beispiele aus der Literatur und der Kulturgeschichte untermauert. Denn die Liste der Jähzornigen ist lang: Aphrodite, Ödipus, Friedrich Hölderlin, Michael Kohlhaas, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, Max Frisch und Ingeborg Bachmann, Werner Herzog und Klaus Kinski.Allerdings: Martin Luther als Zerstörer in einem Atemzug mit Terroristen, Anarchisten und „neumachtgeilen Militärputschisten“ (Seite 6) zu nennen, ist nicht nachvollziehbar.

Der dritte Teil ist der Befreiung vom Jähzorn gewidmet. Bei den Wirkprinzipien der Therapie bleibt dann auch die in Michael Balints Buch „Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse“ erwähnte Bedeutung der „primären Liebe“ nicht unerwähnt. 
Fazit: Eine spannende Auseinandersetzung mit dem Thema Jähzorn und ein facettenreicher Gang durch die Kulturgeschichte des Jähzorns, im sprachlichen Stil manchmal schroff wirkend und etwas sprunghaft-assoziativ geschrieben. Dennoch behandelt das Buch ein interessantes und nicht unwichtiges Thema, und der Autor gibt zahlreiche hilfreiche Hinweise zum Verständnis des Jähzorns und dem therapeutischen Umgang hiermit.

Dr. med. Steffen Häfner, Tübingen

Korrespondenzadresse:
Dr. med. Steffen Häfner
Medizinische Universitätsklinik und Poliklinik
Abteilung Innere Medizin VI
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

steffen.haefner@med.uni-tuebingen.de
www.medizin.uni-tuebingen.de

Kurzvita

Dr. med. Steffen Häfner, geb. 1963, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Naturheilverfahren. Oberarzt an der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Medizinischen Universitätsklinik Tübingen. Tätigkeitsschwerpunkte: Psychosomatische Tagesklinik, Psychosomatische Ambulanz, Psychosomatischer Konsiliar- und Liaisondienst, chronische Schmerzsyndrome. Forschungsschwerpunkte: Psychosomatische Versorgungsepidemiologie, Mobilitätsforschung.