Rezensionen zu:
Karl-Michael Brunner, Sonja Geyer, Marie Jelenko, Walpurga Weiss, Florentina Astleithner: Ernährungsalltag im Wandel. Chancen für Nachhaltigkeit.
Karl-Michael Brunner, Sonja Geyer, Marie Jelenko, Walpurga Weiss, Florentina Astleithner: Ernährungsalltag im Wandel. Chancen für Nachhaltigkeit. Wien, New York: Springer, 2007. 257 Seiten, 2 Abb., Softcover, 29,95 € (D), 29,95 € (A), 49,00 CHF.
Man ist, was man isst
Erst habe ich gezögert, ob das Buch über den Ernährungsalltag für eine Rezension im Balint-Journal passt, jedoch Patienten mit Essstörungen (Adipositas, Anorexia nervosa, Bulimia nervosa), aber auch mit echten oder vermeintlichen Nahrungsmittelallergien, beschäftigen nicht nur Psychotherapeuten zur Genüge. Ärzte beschäftigen sich eher zu wenig als zu viel mit dem, was ihre Patienten essen – obwohl es in Deutschland neuerdings ein Curriculum Ernährungsmedizin der Bundesärztekammer gibt. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass von Hippokrates überliefert ist, der gute Arzt sei auch ein guter Koch. Grund genug, also doch sich mit dem Thema – unter der Perspektive der Nachhaltigkeit – zu beschäftigen.
Nicht nur in Österreich, auch in Deutschland wird die Idee der Nachhaltigkeit vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz unterstützt. Die Idee der Nachhaltigkeit ist einfach: Die Welt so gestalten, dass alle Menschen heute und morgen gut leben können und die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten bleiben. Dabei werden Wirtschaft, Umweltschutz und Soziales gleichberechtigt betrachtet. Nachhaltige Ernährung bedeutet, ausgewogen und abwechslungsreich zu essen und dabei zugleich die natürlichen Ressourcen zu schonen.
Nachhaltige Ernährung will unsere Essgewohnheiten an Zielen wie Umwelt-, Sozial- und Gesundheitsverträglichkeit und kultureller Akzeptanz ausrichten. Unter dem Begriff der Nachhaltigkeit verstehen die Autoren daher ein Entwicklungskonzept, das auf die langfristige, dynamische Selbsterhaltung von Gesellschaften in ökologischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht gerichtet ist. Sie betonen in ihrem Vorwort, dass die ganze Ernährungskette vor der Herausforderung Nachhaltigkeit steht. Deshalb wird der Schwerpunkt vor allem auf die Konsumseite des Ernährungssystems gelegt, also auf die alltäglichen Ernährungspraktiken der Bevölkerung.
Das 2007 mit dem Förderpreis Ernährungskultur ausgezeichnete Buch untersucht aus sozialwissenschaftlicher Perspektive die alltäglichen Ernährungspraktiken von Österreicherinnen und Österreichern mit dem Ziel, Potenziale für nachhaltige Entwicklung in der Ernährung sichtbar zu machen. Das vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) geförderte Projekt „Food consumption practices and sustainable development“ wurde im Zeitraum von Oktober 2003 bis Dezember 2005 durchgeführt.
Das theoretische Rahmenkonzept der Studie sowie der Zusammenhang von Ernährung und Nachhaltigkeit werden im Kapitel 1 erläutert, gefolgt von der methodologischen und methodischen Anlage des Projekts mit dem Leitzugang der von Glaser und Strauss entwickelten „Grounded Theory“ in Kapitel 2. In den folgenden sechs Kapiteln werden empirische Ergebnisse der Interviewanalyse zu zentralen thematischen Schwerpunkten vorgestellt: Die verschiedenen Ernährungsorientierungen, an denen Menschen ihr Ernährungshandeln ausrichten sowie Kochen und Essen im Alltag und daraus resultierende Chancen und Barrieren für nachhaltige Ernährung mit besonderer Betonung der sozialen und kulturellen Dimensionen der Ernährung. Es folgen Kapitel über Gender und Ernährung unter besonderer Berücksichtigung von Genderungerechtigkeiten beim Ernährungshandeln, die Identifizierung von gesundheitsorientierten Ernährungspraktiken und die Untersuchung ihrer Nachhaltigkeitsrelevanz sowie von Kontinuitäten und dem Verlauf von Ernährungsbiographien. Im Kontrast zu den Interviews im städtischen Raum werden im Kapitel 8 die Ergebnisse aus der kleinen österreichischen Landgemeinde Waldhausen beschrieben. Die folgenden vier Kapitel beschäftigen sich mit zentralen Kriterien in der nachhaltigen Ernährungsforschung: Der Konsum von Bio-Lebensmitteln, die Frage von Regionalität, der Fleischkonsum, Fragen der Ernährungskompetenz und -verantwortung. Im letzten Kapitel werden aus den gewonnen Erkenntnissen konkrete Ansatzpunkte für Handlungsstrategien in Richtung nachhaltiger Ernährung vorgeschlagen.
Wichtig sind die Abschnitte über soziale Strukturierungsmerkmale des Ernährungshandelns, in denen die schichtspezifische Unterschiede im Ernährungshandeln, Geschlechterverhältnisse und Ernährungsprozesse, Ernährung und Alter sowie Ernährungs- und Lebensstile dargestellt werden. Marie Jelenko schreibt über geschlechtsspezifische Ernährungspraktiken, Karl-Michael Brunner u. a. über Ernährungsbiographien und Nachhaltigkeit. Karl-Michael Brunner stellt uns auch Waldhausen vor, wo Ernährungsprozesse in einer ländlichen Kleingemeinde studiert wurden. Florentina Astleithner stellt im Abschnitt über „Fleisch als zentrales und selbstverständliches Lebensmittel“ geschmackliche Präferenzen und österreichische Küche (Backhendl, Stelze, Beuschel) vor. Walpurga Weiss informiert über Regionalität und regionale Lebensmittel. Im Resümee stellen Florentina Astleithner und Karl-Michael Brunner die Frage, ob gezielte Veränderung von Ernährungspraktiken möglich ist und stellen hierzu Handlungsempfehlungen vor.
Fazit: Das Buch ist sehr empfehlenswert, da es überaus sachkundig Konsum von Nahrungsmitteln als wichtiges Nachhaltigkeitsthema behandelt. Den Autoren ist Recht zu geben, dass der Nahrungskonsum und der Ernährungsalltag bis dato von der Gesellschaft unterbelichtet sind. Es ist somit sehr verdienstvoll, dass die Autorinnen und Autoren in einer methodisch anspruchsvollen qualitativ-soziologischen Studie Ernährungspraktiken in Österreich erforschten und in dem Buch Chancen und Schwierigkeiten auf dem Weg zu einer nachhaltigen Ernährung herausarbeiten.
Dr. med. Steffen Häfner, Tübingen
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Steffen Häfner
Medizinische Universitätsklinik und Poliklinik
Abteilung Innere Medizin VI
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
steffen.haefner@med.uni-tuebingen.de
www.medizin.uni-tuebingen.de
Kurzvita
Dr. med. Steffen Häfner, geb. 1963, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Naturheilverfahren. Oberarzt an der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Medizinischen Universitätsklinik Tübingen. Tätigkeitsschwerpunkte: Psychosomatische Tagesklinik, Psychosomatische Ambulanz, Psychosomatischer Konsiliar- und Liaisondienst, chronische Schmerzsyndrome. Forschungsschwerpunkte: Psychosomatische Versorgungsepidemiologie, Mobilitätsforschung.