Rezensionen zu:
Alfred Pritz (Hrsg.): Einhundert Meisterwerke der Psychotherapie: Ein Literaturführer.
Alfred Pritz (Hrsg.): Einhundert Meisterwerke der Psychotherapie: Ein Literaturführer. Wien, New York: Springer, 2008. ISBN 978-3-211-25214-7, 200 Seiten, geb., 39,95 €, sFr 65,50.
Kein 101. Meisterwerk
Erinnern Sie sich? Von 1980 bis 1994 strahlten ARD, ORF und BR die Fernsehserie „100 Meisterwerke aus den großen Museen der Welt“ aus. Aus dem Fernsehsessel wurden wir bequem in alle möglichen Museen der Welt zu einem Kunstwerk entführt, das uns zwar kunsthistorisch exakt, doch auch auf recht belehrende Weise vorinterpretiert wurde. Nicht nur die Form der Präsentation, auch die Auswahl der Werke warfen Sonntagabends mehr Fragen als Lösungen auf, so dass man doch recht verzagt zu Bette ging. Die Ausstrahlungen am Sonntagabend – meist nach dem Krimi – hatten dennoch fünf Millionen Zuschauer.
Gerade in jüngster Zeit ist die Kanonisierung von Literatur, Filmen und Musikstücken geradezu epidemisch geworden. Vorschriften über Vorschriften! Und jetzt gibt es auch noch für die Psychotherapie den spezifischen Literaturführer. Man schielt auf das eigene Bücherregal, sucht Genanntes vergeblich und findet Ungenanntes dort, wird unsicher.
Eine Rezension über 100 Buchmeisterwerks-Rezensionen zu schreiben, gestaltet sich nicht einfach. Von A wie Adler, Alfred bis Y wie Young, Jeffrey E. et al. wurden hundert wichtige Fachbücher aus 374 vorgeschlagenen von Alfred Pritz ausgewählt. Man stößt auf Altbekanntes, entdeckt aber auch neue Perlen wie Ben Furmans „Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben“. Wer kann von sich behaupten, alle hundert Bücher gelesen zu haben? Das Auswahlkriterien der Bücher und Rezensenten bleiben im Nebel. Die 30 Buchvorschlager und Rezensenten sind offensichtlich nicht dieselben, vielleicht hätte man die Rezensenten doch besser aus der Liste der Vorschlagenden genommen. Es gibt leider auch keine kritische Reflexion, wie einflussreich eine solche Bewertung für das Fach ist. Was ist das Ziel und welche Wirkung soll so ein Buch haben? Sollen sich Bibliotheken und Psychotherapeuten bei ihren Anschaffungen oder ihrer Lektüre daran orientieren? Wäre es gut, wenn junge Psychotherapieaspiranten genau diese hundert Bücher lesen würden? Vieles würde ihnen verborgen bleiben!
Warum gibt es keine 100 Meisterwerke der Chirurgie oder Inneren Medizin? Ist dieses Buch dem Narzissmus der Psychotherapeuten geschuldet? Noch problematischer wird es, wenn man bedenkt, dass die Einladung zum Bücherschreiben im Zeitalter des – für das Fach der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie zwar hochproblematischen, gleichwohl real existierenden – Impact-Faktors sinkt und sinkt, so dass heute die wichtigen Gedanken eher in Artikeln erscheinen müssen, mit aller Begrenztheit dieses Formats, so dass es vielleicht tatsächlich wieder besser wäre, mehr auf Bücher zu rekurrieren.
Die Sammlung regt sofort die Frage an, was fehlt oder was man selbst genannt hätte. Natürlich fallen einem gleich eigene Favoriten ein oder andere Werke, die häufig genannt werden. Sándor Ferenczi fehlt – man kann natürlich sagen, dass sein Gedankengut über die Hintertür Michael Balints („Therapeutische Aspekte der Regression. Die Theorie der Grundstörung“) hereinkommt. Natürlich ist es subjektiv gefärbt, wenn ich Hanscarl Leuners „Lehrbuch des Katathymen Bilderlebens“ und Justinus Kerners „Die Seherin von Prevorst“ vermisse.
So wechseln hervorragende mit fragwürdigen Rezensionen ab, die stark durch die Psychologenbrille gesehen sind und österreichische Maßstäbe glorifizieren, zum Beispiel die Rezension des Buches von Klaus Grawe, Ruth Donati und Friederike Bernauer „Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession“. In manchen Rezensionen steht manchmal nur eine Zusammenfassung des Buches, mehr Mut zur Bewertung wäre – gerade bei den vermutlich jüngeren Rezensenten – wünschenswert. Und es erhebt sich die Frage, wie die Bücher zum Lesen zugewiesen wurden. Es fällt eine starke positive Identifikation mit den Buchinhalten bei den Rezensenten auf, es gibt eigentlich keine negativen Rezensionen, geschweige denn Verrisse – aber das wäre ja auch schwierig, wenn es sich definitionsgemäß um ein Meisterwerk handelt. Es bleibt oft unklar – und damit auch die Bewertung hinsichtlich des Schwierigkeitsgrades –, ob sich die 100 Meisterwerke an ein Fachpublikum oder das Allgemeinpublikum richten sollen, beispielweise bei der Rezension von Otto F. Kernbergs Buch „Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus“. Auch die Länge der Rezensionen wird uneinheitlich gehandhabt, beispielsweise ist die Rezension über Alfred Lorenzers Buch „Intimität und soziales Leid. Archäologie der Psychoanalyse“ sehr lang. Warum in der Rezension über Donald W. Meichenbaums Buch „Kognitive Veraltensmodifikation“ Werbung für das „Psychometrische Testing bei einem ADHS-Kind der hauseigenen Sigmund Freud PrivatUniversitäts-Forschungsambulanz“ gemacht wird, bleibt rätselhaft und wird nur noch von der unerträglichen Selbstbeweihräucherung der „erstmalig erfolgten Begründung einer Psychotherapiewissenschaft (an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien)“ übertroffen (Rezension über das Buch von Hilarion Petzold (Hrsg.): Psychotherapie & Babyforschung. Band 2: Die Kraft liebevoller Blicke. Säuglingsbeobachtungen revolutionieren die Psychotherapie“). Nicht so selten verhalten sich Länge der Rezension und Bedeutung des Werkes reziprok, und auch die Schweregradeinteilung mit den ein bis drei Buchsymbolen wirkt etwas den Leser bevormundend. Vielleicht hätte man den Platz sinnvoller für Abbildungen von Buchcovern verwenden können.
Fazit: Das Buch enthält Rezensionen unterschiedlicher Güte bei einem schier unlösbaren Unterfangen. Der Auswahlprozess war wohl ein zu subjektiver, jedenfalls unklarer. Jedes einzelne Buch ist vielleicht für sich wichtig, aber gibt es in der Gesamtschau einen Kanon, aus dem womöglich ein Curriculum ableitbar ist? Wer nun völlig verzagt ist und mit dem Lesen ganz aufhören will, dem seien an dieser Stelle doch noch zwei Leseempfehlungen mit auf den Weg gegeben. Eine Lösung des Problems könnte das Buch von Pierre Bayard „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“ sein, die andere der Rat von Sigmund Freud, der es mit immerhin drei Werken auch in den 100er Olymp geschafft hat, die Werke von Fjodor M. Dostojewski zu lesen, um ein guter Psychotherapeut zu werden.
Steffen Häfner, Tübingen
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Steffen Häfner
Medizinische Universitätsklinik und Poliklinik
Abteilung Innere Medizin VI
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
steffen.haefner@med.uni-tuebingen.de
www.medizin.uni-tuebingen.de
Kurzvita
Dr. med. Steffen Häfner, geb. 1963, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Naturheilverfahren. Oberarzt an der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Medizinischen Universitätsklinik Tübingen. Tätigkeitsschwerpunkte: Psychosomatische Tagesklinik, Psychosomatische Ambulanz, Psychosomatischer Konsiliar- und Liaisondienst, chronische Schmerzsyndrome. Forschungsschwerpunkte: Psychosomatische Versorgungsepidemiologie, Mobilitätsforschung.