Leben und Werk

Über die Entwicklung der Balintarbeit B. Luban- Plozza in : B. Luban- Plozza, Heide Otten, Ursula und Ernst Petzold: Grundlagen der Balintarbeit- Beziehungsdiagnostik und - therapie Bonz Verlag Leinfelden- Echterdingen 1998

„Psychotherapie bei einem Kranken anzuwenden, machte mich während meines Medizinstudiums immer wieder befangen..... Wir befanden uns in den 30er Jahren, und die Situation in Ungarn wurde immer gespannter. Ich fand keine Institution, welche mir die Möglichkeit zur Erprobung meiner Idee hätte bieten können. So entschloß ich mich, mit mehreren praktischen Ärzten ein Seminar zum Studium der psychotherapeutischen Möglichkeiten in der täglichen Praxis einzurichten. Anfangs hatte ich nur sehr vage Ideen von den Bedürfnissen meiner Kollegen und begann das Seminar mit einer Reihe von Kursen, welche sich als völlig unnütz erwiesen. Das Interesse aber war trotzdem so groß, daß ich eine zweite Gruppe gründete. Die politische Situation verschlechterte sich. Wir mußten der Polizei die Namen der Teilnehmer unserer Versammlungen angeben. Ein Polizist in Zivil war bei jeder Sitzung dabei und notierte eifrig, was gesprochen wurde. Wir erfuhren nie etwas über den Inhalt dieser Aufzeichnungen und gleichfalls nicht, wer sie las. Das einzige, uns bekannt gewordene Ergebnis war, daß jener Polizist nach vielen Versammlungen einen Arzt aus unserer Gruppe für sich, seine Frau und seine Kinder konsultierte. Es erheiterte uns wohl etwas; eine echte Diskussion war aber unter solchen Bedingungen nicht möglich, und die Ärztegruppe löste sich schließlich wieder auf."

Diese biographische Mitteilung kann als wichtiger Punkt für die grundsätzlichen Regeln gelten, die für eine gut funktionierende Gruppenarbeit im Sinne Balints unerläßlich sind. Die entscheidende Bedingung für die Arbeit in der Balintgruppe ist die des freien Lernbedürfnisses. Wenn die Balintgruppe einer Kontrolle politischer, ideologischer oder auch nur didaktischer Art unterworfen ist, dann wird ihre Dynamik mit Sicherheit ernstlich beeinträchtigt.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs emigrierte Balint nach Großbritannien. Dort verstarb seine erste Frau Alice, die bedeutende pädopsychiatrische Beiträge veröffentlicht hatte. Balint war drei Jahre Primarius der Child Guidance Clinic in Lanshire Preston. Danach wurde er psychiatrischer Berater an der Tavistock Clinic und Beistand des psychiatrischen Dienstes des University College of London. Nachdem er London zu seiner neuen Heimatstadt erwählt hatte, richtete er zusammen mit seiner zweiten Frau Enid 1948 die ersten Seminare für Sozialarbeiter ein; 1950 folgten die Seminare für praktische Ärzte. So begann sich die Balintmethode zu entwickeln. Die ersten Ergebnisse finden sich zusammengefaßt in Balints Buch "Der Arzt, sein Patient und die Krankheit", welches 1957 durch die Tavistock Clinic, London, verlegt wurde und großes Echo fand.

Die Balintgruppen verbreiteten sich in aller Welt und dienten als Basis einer völlig neuen, aber sehr fruchtbaren Forschung. Balint hatte ein neues Konzept für die Betrachtungsweise der Arzt-Patient-Beziehung dargestellt, eine Betrachtungsweise, welche bis zu diesem Zeitpunkt von der medizinischen Wissenschaft weitgehend mißachtet worden war. Mit der Balintmethode gab er den Allgemeinpraktikern wieder die Bedeutung innerhalb der Ärzteschaft, die ihnen zunehmend versagt worden war.

Balint schilderte damals die Situation der Ärzte, die lernen sollten, "die Schmerzen der Patienten anzuerkennen und zu verstehen: nicht nur vom Gesichtspunkt der Krankheit aus, sondern auch als Synonym der Verängstigung oder als Ausdruck eines persönlichen Konfliktes". Balint folgend kann die Therapie in diesem Fall nur von einer besonderen Beziehung zwischen dem Patienten und seinem Arzt ausgehen.

Ein therapeutischer Dialog kann nur hergestellt werden, wenn der Arzt fähig ist, die vom Patienten an ihn gerichtete Botschaft zu empfangen und Schritt für Schritt zu verstehen. Vielleicht kann er in die wahre Natur der tiefen Verängstigung oder der geheimen Störung eindringen, die sich durch körperliche Symptome und Beschwerden mannigfaltiger Art ausdrücken. So können z.B. bei Schlaflosigkeit, Verdauungsstörungen, Bronchial-Asthma, Migräne, usw. mögliche psychische Faktoren oder psychische Ursachen aufgedeckt werden. In einer solchen Arzt-Patient-Beziehung können die Konflikte verstanden und bearbeitet werden, welche "das Herz bedrücken", "den Bauch verkrampfen" oder "den Atem verschlagen". Balint verhehlte aber nicht die Schwierigkeiten dieses Vorgehens im Rahmen der täglichen Praxis.

Als ich (Boris Luban- Plozza) noch praktischer Arzt war, wurde ich mit den vier Situationen, die Wolfgang Loch als "dynamisch unbewußte Faktoren" bezeichnet, immer wieder konfrontiert:

  1. Momentansituation des Patienten, in der sich die psychosomatische Affektion noch im Anfangsstadium befindet und unbewußte Konfliktfaktoren besonders aktiv sind;
  2. psychosoziale Krisenzeit der Patienten, in der unbewußte Konflikte aktiviert werden;
  3. chronifizierte Fälle;
  4. Betreuung von sterbenden Kranken.

Diese vier Punkte können erst durch Erfahrungsaustausch innerhalb der Ausbildung in einer Balintgruppe richtig verstanden werden. Daraus zieht besonders der praktische Arzt großen Nutzen. Ein großer Prozentsatz der Patienten sucht diesen Arzt wegen seelischer Störungen auf und schreibt ihm damit die Rolle eines "Seelenarztes" zu.

In dem so wichtigen zwischenmenschlichen Wechselspiel zwischen Arzt und Patient, verwandelt sich der Arzt selbst in eine Art Medikament ("Arzt als Arznei"). Es handelt sich um eine Wandlung in der Persönlichkeit des Arztes. Diese Wandlung ist "begrenzt aber wesentlich", wie M. Balint immer wieder betonte. Obwohl er den Weg dieser Pioniertätigkeit stetig weiterverfolgte, blieb er in erster Linie Psychoanalytiker. Seine eigentliche Bedeutung ist die eines "Vaters" der Balintgruppe.

Balint bemühte sich immer, die Fähigkeiten des praktischen Arztes besser zu verstehen und neu zu bewerten. Ich erinnere mich an die Wegbereiter-Atmosphäre der zahlreichen und stets packenden Begegnungen, die im Hause Balint in London zustande kamen und die auch in unserer Korrespondenz ihren Niederschlag fanden. Unermüdlich lehrte uns Balint vor allem zuzuhören. Er pflegte zu sagen: "Als wenn wir ein drittes Ohr hätten", oder "Zuhören durch alle Poren der Haut". Ein Kollege war bei einem heiklen Fall in Schwierigkeiten geraten und fragte ihn um seine Meinung. Balint sagte: "Setzen Sie sich nahe zum Patienten und hören sie ihm zu, und geben Sie ihm nicht mehr als einen Gedanken pro Sitzung mit".

Balint hatte nichts von einem erhabenen Lehrstuhlprofessor; vielleicht übte seine Lehrtätigkeit gerade deshalb einen so fruchtbaren und außergewöhnlichen Einfluß aus. Er besaß die Gabe "mit dem Partner gemeinsam Problemlösungen zu suchen und ihn dabei nicht zu entmutigen, wie das viele Lehrer tun...., sondern im Gegenteil zu ermutigen und anzuregen....". Mit Balint konnte man "alles besprechen, was nicht für jeden Analytiker zutrifft" (Mitscherlich).

Als Gruppenleiter bestätigte M. Balint dem einzelnen Teilnehmer die Wichtigkeit seines Beitrages, wodurch sich dieser gestärkt fühlte und wagte, seine Beobachtungen entsprechend ernst zu nehmen....-

Bei den ihm vorgestellten Fällen erkannte Balint sehr wohl an, wieviel der berichtende Arzt von seinen Patienten wußte. Er wies aber nachdrücklich auf übersehene Fakten hin, auf Details, die für das Verstehen des Kranken und seiner Krankheit unentbehrlich waren: Beziehungen zu Ehepartnern und Kindern, zu Vorgesetzten und Untergebenen. Immer fand er Lücken in der Anamnese, die durch ein einfühlendes Gespräch hätten gefüllt werden können. Dies kann nicht in der zeitlich eng begrenzten Sprechstunde geschehen, sondern oft nur in einem längeren Gespräch. So schwer ein solches Gespräch in den übervollen Tag des Praktikers hineinzubringen ist, so sehr erweist es sich in der Regel doch als zeitsparend....


BALINT ALS DENK- UND GEFÜHLSTRAINING

Balintgruppen haben in erster Linie die Aufgabe, die Arzt-Patient-Beziehung zu diagnostizieren. Aufgrund dieser Diagnose (Beziehungsdiagnose) sollen sie den Arzt befähigen, therapeutische Eingriffe vorzunehmen, alle klärenden "Interpretationen" zu geben. Die Arzt-Patient-Beziehung ist aber auch ein wesentlicher Teil der Behandlung (Beziehungstherapie). Die Beziehungsdiagnose soll vor allem die Dynamik und Struktur der Beziehung des Patienten zum Arzt beinhalten, die in der Regel bald die charakteristische Übertragungsform annimmt. Sie entspricht auch der Beziehung, die der Patient zu anderen, ihm emotional wichtigen Personen unterhält. In Balintgruppen spielen sich diese Beziehungsform und -muster oft spontan wieder, was deren lebendiges Erfahren und Erfassen möglich macht. Es handelt sich um Instrumente zur Diagnostik und Therapie pathogener zwischenmenschlicher Verhaltensmuster (W. Loch).

Das in der ärztlichen Praxis sonst weitgehend brachliegende psychologische Rüstzeug des Arztes wird in der Balintgruppenarbeit wissenschaftlich und methodisch - auf der Grundlage der modernen Tiefenpsychologie - zur Entwicklung und Differenzierung gebracht. Es wird in das medizinische Handeln - das Handwerkliche bleibt im Vordergrund - integriert. Dabei handelt es sich um etwas in der medizinischen Bildung grundsätzlich Neuartiges, nämlich um einen emotionalen und nicht nur rationalen Lernprozeß. Dieser bezieht die Persönlichkeit des Therapeuten mit ein, seine psychologische Begabung, seine Emotionalität, sein Einfühlungsvermögen, seine Fähigkeit zum Gespräch und zu mitmenschlichen Beziehungen, sein Mitgefühl und seine Intuition.

Der Therapeut soll befähigt werden, die hinter den Klagen des Kranken verborgenen Probleme und Konflikte aufzuspüren, zu "übersetzen" um sie dem Patienten nahebringen zu können. Es geht darum, die irrationalen, unbewußten Signale, die am Verhalten besonders des schwierigen "Problempatienten" sichtbar werden, wahrzunehmen und zu verstehen.

Die Balintgruppenarbeit vermittelt im Sinne der Beziehungsdiagnostik Einsichten in die emotionale Beziehung zwischen Kranken und Therapeuten. Das richtige Sprechen mit dem Patienten und vor allem auch das Verstehen seiner Symbol- und Körpersprache (durch Gärung zur Klärung) gehören zum Prozeß der Beziehungsdiagnose und helfen, das ärztliche Mitagieren zu erkennen und zu vermeiden. Nach Balint kommt es darauf an, "das Alte in einem neuen Licht zu sehen".

Der Erwerb von mehr psychosozialer Kompetenz geschieht hier durch Denk-, Gefühls- und Gesprächstraining. Eigenes Denken und Erleben soll angeregt, das Wahrnehmen von Gefühlen sensibilisiert werden.

Der Prozeß der psychologischen Ausbildung des Arztes erfolgt mittels Diskussion in Gruppen von acht bis zwölf Teilnehmern. Diese treffen sich wöchentlich oder alle zwei Wochen zu Sitzungen von je 1 1/2 Std. oder mehr. Bei diesen Treffen wird durchgesprochen, was die Teilnehmer in der täglichen Praxis mit ihren Patienten erlebten. Es geht um eine Ausbildung, die sich meist über zwei bis drei Jahre oder länger erstreckt. Gleichermaßen können praktische Ärzte und Klinik-Ärzte teilnehmen. Die Gruppenarbeit stützt sich nicht auf streng umschriebene Regeln, weder für den Gruppenleiter noch für die Teilnehmer; die Bemühungen zielen vielmehr dahin, jedem einzelnen Arzt zu helfen, sein berufliches Handeln in einer umfasssenderen Weise zu verstehen um es nach und nach auch gezielter und wirksamer einsetzen zu können.

In "autozentrierten" Gruppen sucht man v.a. zu durchleuchten, wie sich die Beziehungen zwischen den Gruppenteilnehmern sowie zwischen diesen und dem Gruppenleiter entwickeln. "Allozentrierte" Gruppen stellen dagegen mehr die berufliche, nicht die gegenwärtige Beziehungsdynamik ins Zentrum, in dem über einen speziellen Patienten oder - themenzentriert - über eine besondere Art von Patienten, z.B. Krebskranke, berichtet wird. Auch ohne tiefgehende Kenntnis der Methode, der autozentrierten und der allozentrierten Gruppen ist es wichtig, daß diejenigen, die sich dieser Arbeit zuwenden, unterschiedlichen Modalitäten der beiden Gruppenkonditionen kennen. Es ist zu beachten, daß mit jeder Methode ganz bestimmte Resultate erreicht werden können, daß aber auch jede Methode ihre eigenen Risiken aufweist.

Die psychologische Ausbildung der Ärzte ist jedoch nur ein Aspekt der Arbeit, die in den Balintseminaren vorangetrieben wird. Ein anderer Aspekt ist die stetige Auseinandersetzung mit der Medizin als Disziplin und der Funktion des Arztes. Der traditionellen Medizin, die allen Studenten gelehrt wird und die fast ausschließlich "krankheitszentriert" ist, wird eine andere "patientenzentrierte" Medizin zur Seite gestellt. 
In der krankheitszentrierten Betrachtungsweise wird jedes Individuum als komplizierte Maschine mit biochemischen Funktionen verstanden, und es wird versucht, jedes vom Patienten und dem Arzt angebotene Symptom als Zeichen einer funktionellen Störung dieser Maschine zu erklären. Diese Betrachtungsweise wird mehr und mehr zu einer exakten Naturwissenschaft werden und möchte ständig präzisere Methoden entwickeln, um jede funktionelle Abnormität identifizieren und die Normabweichung nach Möglichkeit korrigieren zu können. Entsprechende Studien zeigen jedoch, daß mindestens 20 bis 30 % der Patienten von praktischen Ärzten nicht an einer organischen Erkrankung leiden. Selbstverständlich sind diese Patienten auch als krank zu betrachten. In diesen Fällen können die diagnostischen und therapeutischen Methoden der krankheitszentrierten Medizin jedoch wenig oder gar nichts bewirken.

Die Balintmethode der Ausbildung, die mittels Hilfeleistung von Kollegen zwischen 1953 und 1955 entwickelt wurde, ist heute weitgehend abgesichert und hat sich inzwischen in vielen Ländern ausgebreitet. Neben der Ausbildung bereits praktizierender Ärzte scheint sich die Balintmethode auch für eine erste Sensibilisierung von Medizinstudenten für die patientenzentrierte Medizin zu eignen. Ebenso bieten sich Möglichkeiten, die spezifischen Beziehungsprobleme anderer Berufsgruppen (Sozialarbeiter, Pädagogen, Theologen, Psychologen, u.a.) in entsprechenden Gruppenseminaren zu bearbeiten. Besonders interessant scheint die Balintgruppenarbeit mit Seelsorgern (Argelander, Trenkel) sowie mit Pflegepersonal...


EINSTELLUNG DES ARZTES UND RISIKO DER PSYCHOLOGISIERUNG

Die Methode Balints könnte ein Weg sein, die Einstellung des Arztes zu ändern, indem ein den ganzen Menschen umfassendes Verständnis angestrebt wird. Wir können versuchen, die übliche Art und Weise der Beantwortung des Appells eines Patienten durch den Arzt auf vier Verhaltensnormen zu reduzieren:

1. Zurückweisung der Krankheit.

Es handelt sich um jene Ärzte, die von ihren Patienten denken: "Ihre Symptome sind nur Einbildungen".

2. Der Arzt stürzt sich in eine minutiöse Erforschung auffälliger körperorganischer Defekte oderFunktionsabweichungen. Er benutzt dazu viele Laboruntersuchungen, Röntgenbilder, Elektrokardiogramme, etc.

3. Der Arzt vervollständigt wie ein Detektiv die Anamnese, indem er den Patienten fortwährend ausfragt und verhört. Er entfernt sich dabei häufig von der eigentlichen Problematik des Patienten.

4. Medizin-Mann-Funktion: Der Arzt erteilt, indem er ein Alibi für sich selbst sucht, Beruhigungen, Versicherungen und Ratschläge, was für den Patienten völlig nutzlos ist.


Im Gegensatz zu diesen typischen Verhaltensweisen gilt für M. Balint, daß der Arzt die Pflicht hat, dem Kranken zuzuhören und zu versuchen, ihn zu verstehen. Dabei geht es ihm in erster Linie um verborgene Bedürfnisse des Patienten, die für seine Krankheit von Bedeutung sind. Folgende Punkte seien hervorgehoben:

1. Der Arzt soll die Bedürfnisse des Patienten erkennen.

2. Er soll verstehen, was sie für den Patienten und für ihn bedeuten.

3. Er soll sich überlegen, ob und in welcher Form er seine Einsichten oder Vermutungen dem Patienten mitteilen will.


Benimmt sich ein Patient dem Arzt gegenüber unangenehm, dann ist das meist ein Symptom seiner "Krankheit" (z.B. Trotzreaktion). Gerade hier gilt es zu verstehen, weshalb der Patient unangenehm sein muß und zu erkennen, welche seine eigentlichen Bedürfnisse sind. Einige charakteristische Ideen M. Balints seien erwähnt, die er während seiner Seminare gerne preisgab: "Eine Mitteilung des Patienten soll man ernst nehmen, sie evtl. wiederholen und damit eine aufbauende Wirkung im Gespräch erzielen..... Es ist besser, dem Patienten im Sprechzimmer einige Minuten zu widmen und ihm zuzuhören, als ihn nach Mitternacht wieder am Telefon zu haben". Andererseits soll der Arzt dem Patienten nicht sogleich alles mitteilen, was er von dessen Konflikten verstanden hat. Die Gefahr wäre zu groß, daß sich der Patient dadurch in übertriebene Angst steigern und davonlaufen könnte.

Die Gefühle eines Patienten muß der Arzt ernst nehmen; er darf aber nicht unbedacht auf die Gefühle reagieren (d.h. zuhören, aber zurückhaltend bleiben). Der Arzt soll immer auf seine eigenen Gefühle im Umgang mit dem Patienten achten, auch bei der körperlichen Untersuchung: Wie wirkt der Patient auf mich? Wie erlebe ich den Patienten? Auch "negative" Befunde haben ihre Bedeutung. Z.B.: Weshalb wird etwas verschwiegen? Weshalb spricht der Patient nie vom Vater? Wenn wir solchen Auslassungen keine Beachtung schenken, vernehmen wir viel Unwesentliches aber wenig Wesentliches.

Jede Therapie erfordert, daß der Arzt seine eigene Rolle in der Beziehung zum Patienten immer wieder überprüft. In unseren Seminaren sagte M. Balint z.B.: "Sicher muß der Preis für die bedeutsame, wenn auch begrenzte Modifikation der Persönlichkeit des Arztes bezahlt werden; besonders in der ersten Etappe, die Zeit und bedeutende Investitionen verlangt, welche zum Glück in den späteren Etappen zurückerstattet werden..... Man muß leiden, um zu wachsen.... Der Arzt zeigt sein Interesse in bezug auf den Patienten nicht so sehr durch Worte als durch seine Hingabe, d.h. durch eine wahre Verfügbarkeit.... Es gibt Personen, die, wenn sie es aus irgendeinem Grund schwierig finden, ihre Lebensprobleme zu meistern, auf eine Krankheit zurückgreifen.....". Diese Patienten gehen oft jahrelang in einem nur oberflächlich gut erscheinendem Einvernehmen zum Arzt. Es besteht zwischen Arzt und Patient ein stillschweigender Kompromiß, ein "Arrangement": Die Krankheit wird von beiden in gleicher Weise als "zurecht bestehend" akzeptiert. In dieser Situation kommt es leicht zu einer "Komplizenschaft", die dem Patienten in seiner schweren Problematik - die eigentliche Ursache seiner Symptome - nicht weiterhilft.


ZUR DIAGNOSE UND THERAPIE

Hier geht es um eine besonders wichtige, keineswegs selbstverständliche Feststellung von M. Balint: "Eine medizinische Diagnose erhält erst dadurch ihren Sinn, daß sie eine entsprechende Therapie ermöglicht". In bezug auf die psychologischen Aspekte der Krankheit sah Balint die Gefahr, sich nicht ausreichend mit der eigentlichen Therapie zu befassen. Er erzählte gerne folgende Episode: "Während einer klinisch-pathologisch-psychosomatischen Versammlung auf höchster Ebene an der Mayo-Klinik, nach einem brillanten diagnostischen Exposé und einer ebenso brillanten Diskussion, erlaubte sich der junge Assistent, den berühmten Professor und Moderator zu fragen: "Und die Therapie?", worauf der Professor antwortete: "Gebt ihm Aspirin oder irgend etwas anderes!"

Die psychologischen Faktoren einer Krankheit werden meist als unwichtig betrachtet, indem zuerst Organisches abgeklärt und behandelt wird. Was zuerst klargestellt wird, erweckt auch beim Patienten den Eindruck des Wichtigeren; die Reihenfolge der Diagnosestellung spielt eine maßgebliche Rolle. Eine Reihe von Patienten gewöhnt sich an eine bestimmte Art medizinischer Tätigkeit; wenn diese Patienten zu einem Arzt gehen, wollen sie immer diese Art von Medizin angewandt sehen. Balint hat sich mit den Charakteristiken dieser "Krankheiten" beschäftigt, wie sie bei solcher Art von Medizin diagnostiziert werden. Dabei hatte er gesehen, daß es sich meist um eine Störung des Gleichgewichts zwischen Belohnungen und Enttäuschungen handelte. Diese Kranken beschweren sich über eine große Zahl von Symptomen; der Arzt versucht, mit Hilfe seiner Fantasie und einer Fülle von Untersuchungen, diesen Symptomen "eine Krankheit" zu geben, einen Namen, ein Etikett.

M. Balint gebührt das Verdienst, daß sich in den letzten 15 Jahren viele Ärzte neben ihrer beruflichen Tätigkeit wieder mehr für die Persönlichkeit der Kranken zu interessieren begonnen haben. Balint hat seine Forschungen aufgrund seiner eigenen ärztlichen Erfahrungen, seiner psychologischen Wahrnehmungsfähigkeit und aufgrund zahlloser Gespräche mit praktischen Ärzten entwickelt. Er untersuchte, was der Kranke von seinem Arzt erwartet, indem er ganz besonders die Charakteristiken der Arzt-Patient-Beziehung erforschte. Diese Arbeit hatte zur Folge, daß sich heute in vielen Ländern eine ständig wachsende Anzahl von Ärzten in Balintgruppen zusammenschließen, um unter Mitarbeit eines Gruppenleiters diese fruchtbaren Untersuchungen zum Wohle vieler Patienten fortzusetzen.

SCHLUSSFOLGERUNGEN

In zunehmendem Maße erkennt der praktische Arzt, daß hinter vielen Krankheiten seelische Schwierigkeiten, Sorgen im Beruf und in der Familie stehen. Meistens fürchtet er, zuviel Zeit und Kraft zu "verlieren", wenn er auf diese Hintergründe eingehen würde.

Als Antwort auf dieses Problem entstand die grundlegende Idee M. Balints: Der praktische Arzt sollte sein eigenes Gefühlsleben im Umgang mit seinen Patienten als diagnostisches und therapeutisches Instrumentarium benutzen lernen. Somit betrachtet er gezielter die Beschwerden seiner Patienten nicht nur als "Ausfluß" eines somatischen Leidens, sondern zugleich als (möglicherweise körperlichen) Ausdruck einer Konfliktsituation oder einer Anpassungstörung.

Die Entwicklung der Balintgruppen stellt eines der interessantesten Ereignisse auf medizinischen und psychologischem Gebiet nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Man darf sagen, daß diese Bereiche durch Balint entscheidend verändert worden sind. Trotz allem muß nachhaltig darauf hingewiesen werden, daß das allmähliche Umlernen in der Medizin ein langwieriger Prozeß ist und daß eine allzu schnelle wahllose Verbreitung der Balintmethode auch ihre Risiken birgt.

Für die Balint-Forschung sowie für die Förderung und Ausbreitung der Balintarbeit ist es wichtig, daß sich alle Beteiligten einer gemeinsamen Sprache bedienen. Die Bildung von Trainingsseminaren für Gruppenleiter kann sicher ein erster Schritt in diese Richtung sein. In solchen Gruppenleiter-Trainingsseminaren können deren Eindrücke, Erfahrungen, Meinungen und individuelle Techniken unter einander besprochen und diskutiert werden. So können diese sich gegenseitig helfen, ihre Balintarbeit zu fördern oder zu verbessern.

Für M. Balint ist es wohl bezeichnend, daß er noch vor seinem plötzlichen Tod im Dezember 1970 voller neuer Ideen war.